Interview: Über die Art des Zusammenlebens und der Wahrnehmung des Gegenübers nachdenken
Ernst Eicher ist Allgemeinmediziner, Notarzt, Umweltschutzarzt und Lehrbeauftragter an der MedUni Graz. Er betreibt neben der Praxis den regionalen Lebensmittelmarkt „Lebensmittelpunkt“ und ist Initiator des GesundheitsNetzwerk Raabtal und des Projektes FIBBB-Familien interdisziplinär beraten, begleiten und betreuen.
Welche Auswirkungen bemerkst du als Arzt nach mittlerweilen doch einigen Wochen der Covid-19 Maßnahmen für Familien in eurer Region?
Zunächst ist es einfach sehr schnell gegangen. Von heute auf morgen waren Schulen und Kindergärten geschlossen, Treffen untersagt und Kontakte auf ein Minimum reduziert.
Diese Zeit haben Familien durchaus gut wahrgenommen, war doch auf einmal viel mehr Zeit in der Kleinfamilie vorhanden, waren Eltern zu Hause und hatten mehr Zeit. Da wurden auch Kinder anders wahrgenommen, als unter dem ständigen Druck funktionieren zu müssen. Es war mehr Platz Kinder und Partner in ihrem Sein wahrzunehmen, nicht in ihrem Tun.
Natürlich sind die Herausforderungen von Familie zu Familie unterschiedlich. Familien mit mehreren Kindern in unterschiedlichen Entwicklungsphasen stellen schon viele Herausforderungen dar. Hier sind Strukturen und eine gute Organisation sehr hilfreich.
Nach und nach haben sich 3 Gruppen entwickelt. Jene, die in der Situation längerfristig mehr leisten müssen und beruflich mehr gefordert sind. Ärzt*innen, Altenbetreuer*innen, Fabrikarbeiter*innen beispielsweise. Dann jene, die mit Homeoffice bzw. Kurzarbeit mehr zu Hause waren, aber finanziell doch gut abgesichert sind. Und dann sind noch jene, deren Sorgen am stärksten gewachsen sind, da ihnen auch die finanzielle Absicherung abhandengekommen ist. Sie reagieren oftmals mit Rückzug und „unsichtbar machen“. Hier dürfen wir nicht vergessen hinzusehen und aktiv zu werden.
Wie gehen Familien und Kinder mit diesen Gefahren und der Unsicherheit um?
Zum einen ist mehr Zeit und Entschleunigung vorhanden, um die Menschen in ihrem Sein mehr wahrzunehmen. Dazu kamen aber die Unsicherheiten über das Virus.
Kinder und Erwachsene fragen sich „dürfen die Enkel noch zu den Großeltern?“ „wie gefährlich sind wir für sie?“. Die Unsicherheit, vor allem in Bezug auf die Übertragungsauswirkungen von Kindern macht die Situation echt schlimm. Wie weit sind wir eine Gefahr für unsere Liebsten, das macht einen ungeheuren Verantwortungsdruck gerade auch auf Kinder. Dem sollten wir möglichst schnell durch fundierte Daten begegnen.
Im Zuge des derzeitigen Wiederhochfahrens wird immer öfter darauf verwiesen, dass Kinder dabei zu wenig berücksichtigt und benachteiligt werden. Was bemerkst du in deiner Region davon? Welche Schwerpunkte sollten deinem Einschätzen nach in den nächsten Tagen und Wochen in Bezug auf Kinder und Familien stärker berücksichtigt werden?
Die große Unbekannte ist der Stand des Wissens über den Erreger. Ich hoffe wir bekommen bald fundierte Daten aus den wissenschaftlichen und epidemiologischen Daten. Derzeit gibt es zwei unterschiedliche, sich wiedersprechende Ergebnisse gerade in der Übertragung des Virus von Kindern auf Erwachsene. Die einen deuten darauf hin, dass es keinen Unterschied in der Übertragung zwischen Kindern und Erwachsenen gibt, die anderen zeigen eine deutlich geringere Übertragungsrate durch Kinder. Beide sind derzeit nicht ausreichend erforscht. Dieses noch fehlende Wissen macht Empfehlungen und Handeln so schwierig.
Aber wie in allen Krisensituationen ist sind auch hier die Phasen ähnlich. Zunächst ist eine Schockreaktion vorhanden. Danach kommt es aus der Angst heraus zu ein in manchen Situationen übertrieben Verhalten. Schlussendliche kommt eine ebenso krasse Überreaktion in die andere Richtung, in der die vorherige Phase fast als absurd empfunden wird. Diese Phasen sind normal und jeder kann sie bei sich selbst beobachten. Wichtig wäre es, sich in diese Phasen nicht voll hinein zu lassen, sondern sinnvoll damit umzugehen. Daraus könnten wir dann zum Beispiel einen wertschätzenden Umgang mit situationsbezogener Nähe und Distanz auf Dauer behalten.
Darüber hinaus sollen wir den jetzt erlebten Wert der sozialen Kontakte nutzen, um ein Bewusstsein für die Mitverantwortung im Bereich Gesundheit aller in der Gesellschaft zu stärken. Ein fundiertes Wissen über Infektionskrankheiten, Viren, Bakterien, aber auch Pilze, Würmer und dergleichen mehr ist sinnvoll. Diese sind nicht böse, sondern, wie wir auch, ein Teil der Natur, mit dem wir vernünftig umgehen müssen. Da bekommt dann auch die Hygiene wieder einen neuen Stellenwert. Alte Sprüche wie „Nach dem Klo und vor dem Essen, Händewaschen nicht vergessen!“ hatten schon einen Sinn.
Man kann das durchaus mit dem Feuer vergleichen: Zuerst war es ein große Gefahr, dann haben wir gelernt damit umzugehen und nun gibt es einen normalen Umgang damit. Ähnlich kann es sich bei Erkrankungen wie dieser entwickeln.
Zum Abschluss noch ein Blick in die fernere Zukunft: Man sagt, dass aus Krisen immer auch gelernt wird. Welche „Lernerfahrungen“ wünschst du dir, dass unsere Gesellschaft aus dieser Krise langfristig mitnimmt?
Zum einen bietet diese Situation die Möglichkeit darüber nachzudenken, wie viel, wie schnell und wie verbrauchsorientiert unsere Gesellschaft sein muss um zu funktionieren. Muss jeden Tag mehr geleistet, produziert und konsumiert werden?
Zum anderen könnte aus der jetzigen Zeit heraus über die Art des Zusammenlebens und der Wahrnehmung des Gegenübers nachgedacht werden. Geht es rein darum zweckorientiert zu funktionieren, oder können und wollen wir auch andere Qualitäten leben? Nehmen wir den anderen in erster Linie als Menschen war, so wie er ist und nicht wie er funktioniert? Darf er zuerst einmal da sein, sein wie er ist und seine eigene Ideen entwickeln? Um erst dann mit der Arbeit zu beginnen diese auch umzusetzen.
Informationen zu fibbb ( Familien interdisziplinär beraten, begleiten und betreuen), einer Plattform zur Sensibilisierung für und Erhaltung von Gesundheit, gibt es unter www.fibbb.at.