
50 Jahre Tagesmütter*väter Steiermark
Die Organisation Tagesmütter*väter Steiermark feierte 2024 ihr 50-jähriges Bestehen. Wir haben uns mit Geschäftsführerin Daniela Wohlmuth zum Interview getroffen und sie unter anderem zur Entstehungsgeschichte, den Highlights und den Herausforderungen der letzten Jahrzehnte befragt.
Wie ist es zur Gründung von „Tagesmütter*väter Steiermark“ gekommen?
D.W.: Das war vor 50 Jahren aus der katholischen Frauenbewegung heraus in Graz. Es gab da einen Artikel in der „Brigitte“, da wurde ein skandinavisches Modell zur familienähnlichen Kinderbetreuung vorgestellt. Und dann haben sie gedacht „Das holen wir nach Graz!“ Am Anfang hat es sehr banal angefangen – Frauen haben gesagt, sie wollen gerne arbeiten gehen und andere haben gemeint sie schauen gern auf Kinder. In den letzten 50 Jahren hat sich das hoch professionalisiert. Wir haben über 300 Mitarbeiter*innen in unserem Unternehmen und jetzt gibt es uns seit 50 Jahren in der Steiermark mit 10 Regionalstellen.
Es ist spannend, weil man von anderen Bundesländern hört, dass es durchaus schwierig ist. Wie geht es euch da in der Steiermark?
D.W.: Wir haben das Glück, dass der (mittlerweile ehemalige) Herr Landesrat Werner Amon ein klares Bekenntnis zu diesem Konzept der Kinderbetreuung gemacht hat, weil es einfach das Angebot erweitert. Nicht für jedes Kind passt die große Gruppe. Aber jedes Kind, wenn es dazu bereit ist, betreut zu werden, sollte betreut werden können. Im ländlichen Raum ist es nicht so, dass es überall Krippen oder eine Ganztagsbetreuung gibt. Da ist das einfach eine super Ergänzung für die Eltern. Und wir arbeiten seit 25 Jahren im Bereich der Betreuung auch von Kindern mit Behinderung, also wirklich ab 0 Jahren. 1999 hatten wir den ersten Lehrgang, der heißt „MIKADO“, gestartet und betreuen hierbei Kinder mit Behinderung in der Steiermark. Mittlerweile haben wir neun Lehrgänge abgeschlossen, der zehnte läuft gerade. Mikado ist ein Konzept, das sehr gut in diesem kleinen Setting funktioniert. Wir haben gemeinsam mit der Stadt Graz im Dezember 2023 die erste inklusive Kinderkrippe in der Steiermark eröffnet und betreuen hier auch im Setting der institutionellen Einrichtung Kinder mit Behinderung. Wir wollen kein Kind ausschließen. Es muss sich das Kind nicht biegen, sondern wir müssen die Umgebung so schaffen, dass die Betreuung gelingt.

Wie wird das Angebot von den Kindern und Eltern angenommen?
D.W.: Die offizielle Eröffnung mit Herrn Amon und Herrn Hohensinner war im September 2024. Wir haben zuerst die Kinder eingewöhnt und dann in die bestehenden Gruppen die Kinder mit Behinderung integriert. Wir haben vier Kinder mit Behinderung, zwei je pro Gruppe, weil wir einfach dieses inklusive Setting haben wollen, wo niemand aufgrund von Behinderung, kulturellem Hintergrund oder Religion benachteiligt wird. Wir haben auch bei unseren Mitarbeiter*innen eine vielfältige Mischung, damit wir das einfach widerspiegeln.
Der Bedarf ist sehr hoch, oder?
D.W.: Bedarf ist gegeben, vor allem werden Kinder mit Behinderung wirklich oft abgelehnt in Krippen. Man muss sie ja nicht nehmen. Es ist jeder Institution überlassen, ob man Kinder mit Behinderung betreuen möchte oder nicht und ganz viele machen das halt einfach nicht. Aber wir haben jetzt wirklich schon viele Jahre Erfahrung in der Betreuung von Kindern mit Behinderung, dass wir uns da auch „drübertrauen“. Ich verstehe nicht, warum so viel Aufmerksamkeit darauf gelegt wird, dass das Kind eine Behinderung hat; man sollte es einfach so akzeptieren, wie es ist. Aber es muss natürlich das Setting für das Kind passen. Weil wenn ein Kind überfordert ist mit einer großen Gruppe, dann macht es keinen Sinn, es da reinzuzwängen, aber da gibt es dann auch noch das Angebot mit den vier Kindern bei der Tagesmutter oder dem Tagesvater. Also das ergänzt sich sehr gut.
Im Arbeitssetting gibt es ja das, dass größere Firmen inklusive Arbeitsplätze schaffen müssen, auch wenn sie sich dann freikaufen können etc. Das wären natürlich auch Rahmenbedingungen, wenn man sagt, Kindergärten, Kinderkrippen ab einer gewissen Größe, sollten einfach da in der Lage sein, das zu machen. Aber es fehlt oft an der Infrastruktur.
D.W.: Ich glaube, es fehlt da oft einfach an dem „ich traue mich einfach drüber“, also an diesem Unvoreingenommen. Da wir MIKADO schon so lange haben und jetzt wieder 18 Mitarbeiter*innen haben, die die MIKADO-Ausbildung machen (sie haben bereits den ersten Teil der Ausbildung abgeschlossen), haben wir da einfach einen anderen Zugang und das fehlt halt total oft. Meine Leitung, die Martina Jäger, leitet die inklusive Bildung bei uns und sie sagt immer: „Keine Sorge, es wird schon alles gut und wenn nicht, finden wir eine Lösung.“ Ich finde das ist auch eine gute Einstellung, das einfach zuzulassen und die Kinder anzunehmen und zu schauen, wie man mit ihnen umgeht.
Wir haben eine eigene Abteilung für inklusive Bildung, wir haben eigene Materialien zum Ausborgen für unsere Mitarbeiter*innen. Wenn sie etwas brauchen, kriegen sie Unterstützung. Jetzt zum Beispiel wissen wir, dass die Kinder die als nächstes in die Krippe kommen Autismus-Spektrum-Störungen haben. Da arbeiten wir proaktiv. Wir überlegen uns, was brauchen die Kinder, um gut in der Krippe anzukommen. Auch in unserem Fortbildungsprogramm gibt es Schulungen zum Thema Autismus. Eine eigene Abteilung für inklusive Bildung, die das Setting betreut, hat sonst kein anderer Träger.
Was waren die Highlights der letzten Jahre?
D.W.: Ich glaube MIKADO. Einfach dass es das auch schon seit 25 Jahren gibt und wir seit 25 Jahren in einem Setting Kinder betreuen und auch Kinder mit Behinderung betreuen. Gerade in der Altersgruppe 0-3 gibt es gar nichts. Die heilpädagogischen Kindergärten beginnen erst ab 3. Das ist schon etwas Großartiges in unserem Unternehmen.
Weil wir jetzt MIKADO so oft erwähnt haben – was kann man sich darunter vorstellen?
D.W.: Also bei der Ausbildung ist sehr viel Selbstreflexion, sehr viel Selbsterfahrung und Entwicklungspsychologie dabei und natürlich werden die Themen wie Down-Syndrom, Autismus-Spektrum, Diabetes, Hör- und Sehbehinderungen von Kindern etc. angesprochen. Es ist eine sehr breite Ausbildung, die in diesen Bereich hineingeht, wo es um die Zusammenarbeit mit Behörden geht, wo es um die Zusammenarbeit mit Helfer-Systemen geht, wo man sich mit Frühfördern eng abstimmt, um das Optimum für das Kind herauszuholen und ihm die Möglichkeit gibt, das Potential voll nutzen und sich entfalten zu können. Das Betreuen von Kindern mit Behinderung zusammen mit Kindern ohne Behinderung ist besonders. Außerdem bietet es auch den Kindern ohne Behinderung einen Mehrwert, weil man so das Unvoreingenommene schon als kleines Kind mitbekommt und uns das gesellschafts-technisch sehr hilft.
Gibt es MIKADO auch darüberhinausgehend?
D.W.: Wir dürfen Kinder von 0 bis 14 Jahren betreuen im Setting der Tagesmutter bzw. des Tagesvaters. Die MIKADO-Kinder bleiben auch sehr lange, werden dann oft, auch wenn sie in den Kindergarten oder in die Schule wechseln, nachmittags noch von den Tagesmüttern*vätern betreut. Das sind oft sehr lange Betreuungen, also über Jahre. Also es gibt wirklich Kinder, die bis zum 14. Lebensjahr bei dieser Tagesmutter bzw. diesem Tagesvater betreut werden, um einfach hier diese Stabilität zusätzlich zum Familiensystem zu haben.
Gibt es MIKADO auch für (Elementar-)Pädagog*innen (im Schulkontext) auch als Zusatzqualifikation oder als Weiterbildung?
D.W.: Wir haben das speziell für uns in der Elementarpädagogik entwickelt. Es gibt mittlerweile den inklusiven Pädagogen bzw. die inklusive Pädagogin, vorher war es ein*e Sonderkindergärtner*in. Aber viele unserer Weiterbildungen sind auch für Externe offen (nur der MIKADO-Lehrgang nicht, der ist intern besetzt, weil wir nur 18 Plätze haben und er alle drei Jahre startet).
Wie kann man einem Kind beschreiben, was ihr als Institution macht?
D.W.: Hauptsächlich machen wir Kindergarten in klein bzw. in Kleingruppen mit vier Kindern im Familiensetting. Das ist bei der Tagesmutter bzw. dem Tagesvater zuhause, in einem Betrieb/einer Einrichtung oder einer Gemeindewohnung. Gerade bei vier Kindern hat man halt auch die Möglichkeit, auf die individuellen Bedürfnisse bestmöglich einzugehen. Die Tagesmütter*väter kochen auch frisch zuhause. Auch hier nehmen wir auf alle Ernährungsweisen der Kinder Rücksicht, egal ob das kulturell, religiös oder medizinisch indiziert ist. Also von glutenfrei über vegan gibt’s alles.

Gibt es irgendwelche besonderen Herausforderungen?
D.W.: Die Gesellschaft verändert sich sehr stark in den letzten Jahren. Diesem Wandel einfach Stand zu halten und unsere eigene Auflage, hochqualitativ zu arbeiten, zu erfüllen, ist ganz wichtig. Ich glaube, dass man den Eltern wieder sagen muss, lasst die Kinder einfach Kinder sein. Wir bieten auch Eltern-Webinare an, wo Eltern die Möglichkeit haben, wenn sie möchten, anonym, einfach online teilzunehmen. Es gibt dann Vortragende, die eine halbe Stunde Input geben und dann kann man Fragen stellen. Es geht um Themen wie „Eingewöhnung“, „Nein aus Liebe“, „Streit in der Sandkiste“, „Wutzwerge“; also einfach diese Themen, die im Alltag auftreten und es findet großen Andrang. Das Webinar ist kostenfrei für alle unsere Eltern und das wird gut angenommen.
Jetzt hattet ihr eure 50-Jahre-Feier – wo seht ihr euch bei der 60-Jahre-Feier?
D.W.: Ich hoffe, dass wir mit der inklusiven Krippe einfach die Möglichkeit haben, dass auch andere Gemeinden sich dazu entschließen, dieses Setting für Kinder anbieten zu wollen. Es würde uns freuen, wenn mehr Inklusion für Kinder gelebt wird, dass wir wieder Tagesmütter und Tagesväter dazugewinnen – gerne mehr Tagesväter – und dass wir in zehn Jahren noch immer über 300 Mitarbeiter*innen im Unternehmen sind und das feiern können.
Wie geht ihr mit dem Thema Kinderschutz um?
D.W.: Bei uns sind gerade zwei Mitarbeiterinnen in Wien in Ausbildung zu Kinderschutzbeauftragten, die die Ausbildung heuer abschließen. Wir entwickeln gerade unser eigenes Kinderschutzkonzept gemeinsam mit der Kinder- und Jugendanwaltschaft, um den Kinderschutz, bei den speziellen Bedürfnissen, die wir in dem Setting haben, auch bestmöglich gewährleisten zu können. Wir machen selbst Hausbesuche, die wir natürlich forcieren und wir haben im Unternehmen drei ausgebildete TAS-Trainerinnen (Tageseltern-Auditierungsskala), um einfach die Qualität sicherzustellen und hochzuhalten. Zusätzlich wird jede Tagesmutter vom Land Steiermark durch die Fachaufsicht einmal bis zweimal jährlich kontrolliert. Außerdem werden alle Mitarbeiter*innen zum Thema Kinderschutz geschult.
Wie bindet ihr die Eltern oder die Erziehungsberechtigten in das Thema Kinderschutz ein?
D.W.: Wir wollen, aus dem Kinderschutzkonzept ein Merkblatt erstellen für die Eltern, das sie einfach in ihre Elternmappe hineinbekommen. Es ist wichtig, dass niemand das Gefühl hat, man kann Themen nicht ansprechen, sondern dass man den Menschen den Raum und das Gefühl gibt, dass sie mit allem zu uns kommen können. Dass man sie versteht und dort abholt, wo sie gerade stehen. Man kann bei uns eins zu eins Eltern-Beratungen in Anspruch nehmen, wo man von einer Lebens- und Sozialarbeiterin beraten und unterstützt wird, wenn man irgendwelche Anliegen hat. Außerdem haben wir sowohl die Möglichkeit online anonym Tipps zu geben als auch eine Box vor Ort.
Das Netzwerk ist oft entscheidend, damit man, wenn Themen aufkommen, das in weiterer Folge auch in Anspruch nehmen kann.
D.W.: Wir wollen demnächst in Graz erstmals ein Netzwerktreffen für alle Partner*innen in der Elementarpädagogik veranstalten. Es gibt die Sozialräume, die sich treffen, aber das betrifft dann eher wirklich ganz das breite Spektrum, da ist alles bis 18 dabei. Und 75% der Kinder, die wir betreuen sind im Alter 0-4 und für dieses Setting gibt es in Graz nichts. Wir wollen einfach schauen, dass wir alle beteiligten Netzwerkpartner*innen zu diesem Thema an einen Ort zum Austausch bringen. Ich glaube es ist wichtig, dass man auch miteinander redet und sagt, wie es einem geht und was die Auffälligkeiten, was die Herausforderungen sind. Man sollte das übergeordnete Ziel sehen und das sind die Kinder. Und ich sage mal, wenn das das Ziel ist, dann müssen alle miteinander daran arbeiten, damit das gelingt. Da sind wir Erwachsenen in der Verpflichtung.
Gibt es etwas, was ihr Kindern und Jugendlichen sagen möchtet?
D.W.: Dass man in seine eigene Kraft vertraut, aufs Bauchgefühl hört und sich auch einfach einmal traut (neue) Sachen zu machen. Unsere Unterschiede machen uns interessant, die Gesellschaft ist ein bunter Blumenstrauß und besteht nicht nur Margeriten, so schön sie sind, es braucht den Löwenzahn und es braucht diese Vielfalt. Die Vielfalt können wir nur leben, wenn wir uns darüber trauen. Und da sollte man einfach dieses Unvoreingenommene länger behalten.
Vielen Dank für das Interview!
Das Interview führte Kerstin Baumgartner im Sommer 2024.